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Cinema in the Digital Age
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Jan Speckenbach / Birk Weiberg

Vaudeville
Totale Tiefgarage. Musik.
Er kommt ins Bild (Schwenk oder Blende). Bewegt sich auf Kamera zu.
Er
25 Jahre nach dem Tod von Ulrike Meinhof: Lauter offene Fragen. Die sich bedroht fühlten, durften trotzdem bester Laune sein. Ein Lokalblatt berichtete in den 70ern unter dem Titel "Das große Fressen am Wörther See" von einer Party, zu welcher "Industriemagnaten, Finanzgewaltige und Playboys aller gängigen Kaliber" in Privatjets angereist waren. Champagner floss; es liefen Pornofilme. Die Gäste waren nicht alleine. Siebzehn Stunden lang wurden sie von Polizeibeamten und einer Privattruppe bewacht: Zuvor waren Drohungen der damals so genannten Baader-Meinhof-Gruppe eingegangen.
Doch die damaligen Verhältnisse, die von Notstandsgesetzgebung, Obrigkeitsdenken und Blindheit gegenüber der Nazi-Zeit geprägt waren, waren kein Spuk, sondern Wirklichkeit; genauso wie die Aktion einer französischen Journalistin namens Beate Klarsfeld, die Georg Kiesinger, dem Kanzler der Großen Koalition, 1969 erst eine Ohrfeige verpassen musste, damit dessen ehemalige NSDAP-Mitgliedschaft zum Thema wurde (und die dafür zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde).
In Kolumnen für das Magazin konkret setzt sich Ulrike Meinhof mit dem Vietnamkrieg auseinander; in Radio- und Fernsehbeiträgen behandelt sie die Situation jugendlicher Randgruppen. Aber sie zweifelt immer mehr an der Wirkung ihrer journalistischer Beiträge. 1968 notiert sie: "Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht."
Am Morgen des 14. Mai 1970 betreten drei junge Frauen und ein Mann das Institut für Soziale Fragen in Berlin. Wie verabredet befinden sich im Lesesaal Ulrike Meinhof und der inhaftierte Andreas Baader, der von zwei Beamten begleitet wird. Das gemeinsame Buchprojekt für den Wagenbach-Verlag, das Meinhof und Baader angeblich ausarbeiten wollen, ist nur ein Trick. Es dient als Vorwand, Baader aus der Haftanstalt zu kriegen, um ihn anschließend zu befreien.
Baader springt aus dem Fenster. Meinhof folgt ihm - entgegen ihrer ursprünglichen Absicht. Bereits am nächsten Tag hängen in Berlin Fahndungsplakate, die nur das Gesicht von Ulrike Meinhof zeigen: "Mordversuch in Berlin. - 10000 DM Belohnung." In weniger als vierundzwanzig Stunden wird aus einer berühmten Journalistin die Staatsfeindin Nummer Eins. Acht Tage später erscheint das Manifest "Die Rote Armee aufbauen".
In den ersten knapp zwei Jahren ihres Bestehens ist die RAF allein damit beschäftigt, den Alltag in der Illegalität zu organisieren. Dann, im Mai 1972, tritt die RAF zum ersten Mal in Erscheinung. Bei sechs Sprengstoffanschlägen, vor allem auf militärische Einrichtungen der US- Streitkräfte in Deutschland, gibt es vier Tote und zahlreiche Verletzte. Kurze Zeit später werden die Gründungsmitglieder verhaftet.
Im Mai 1975 beginnt in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen die erste Generation der RAF, dessen Ausgang sie nicht mehr erleben wird.
Ulrike Meinhof stirbt im Alter von 41 Jahren in ihrer Zelle im Hochsicherheitstrakt. Am Morgen des 9. Mai 1976 wird sie von Justizvollzugsbeamten erhängt aufgefunden. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Weder Angehörige noch Rechtsvertreter dürfen die Tote sehen. Noch vor der schlampig durchgeführten Obduktion meldet die Nachrichtenagentur UPI: "Selbstmord durch Erhängen".
Ulrike Meinhof war vermutlich bis zu ihrem Ende ein innerlich zerrissener Mensch. Sie schwankte zwischen protestantischer Moral und rebellischem Geist. Das Bild, das von ihr zurückbleibt, ist das einer ernsten Frau.
Bereits während des Textes fährt im Hintergrund ein Auto heran, fährt an Ihm vorbei. Schwenk mit Auto. Kamera lässt Ihn stehen, geht auf Sie, die noch etwas unkoordiniert hin und herfährt (Autoballett), bis Sie einparkt. CU auf Sie, frontal. Der Off-Kommentar im Saal setzt ein.
Off-Kommentar im Saal
Sie hatte sich mühsam, mit Aufbietung aller Kraft gefasst. Die oft geübte Selbstbeherrschung verließ sie auch jetzt nicht, nachdem sie den ersten Schrecken über sein plötzliches Auftauchen überwunden hatte. Nur bleich war sie bis in die Lippen, und ihre Augen fanden die herb abweisende Kälte nicht, die sie so gern gezeigt hätte, um ihrem Stolz zu genügen. Sie sah, dass sein Haar an den Schläfen grau geworden war.
Er konnte seine Augen nicht von ihr lassen. Ihm war, als müsse er sich ihre Züge für alle Zeit einprägen, und er fragte sich, wie er so blind hatte sein können, sie für innerlich leer zu halten. Freilich, sie hatte sich sehr verändert in dieser Zeit, wo er sie nicht gesehen hatte, und so erregt wie heute war sie ihm noch nie erschienen. Obwohl er merkte, dass sie sich zur Ruhe zwang, sah er doch in ihrem blassen Gesicht etwas wie verhaltenes Weinen. Heute täuschte ihn die starre Miene nicht, heute spürte er, dass hinter der scheinbaren Kälte, die sie wie eine Maske vorlegte, heißes Leben pulsierte.
Sie steckt Zigarette in den Mund. Eine Hand kommt ins Bild, gibt Ihr Feuer. Kamera geht auf halbnah. Er sitzt neben Ihr, als säßen sie schon seit Stunden dort.
Er
Sag mal, hast du heute Abend schon etwas vor?
Sie
Nein, noch nicht. Warum?
Er
Im Babylon läuft ein Film mit Klaus Kinski. Kommst du mit?
Sie
Hm ... Heute Abend?
Er
Ja, der Film läuft nur heute Abend. Und ich gehe nicht gern allein ins Kino. Komm doch mit!
Sie
Na gut, ich komme mit. Um wie viel Uhr beginnt der Film?
Er
Um halb neun. Ich hole dich ab.
Sie
Nein, ich komme zum Kino.
Er
Gut, um Viertel nach acht bin ich da.
Sie
Also bis dann, Tschüß!
Er
Tschüß!
Sie steigt aus. Er bleibt sitzen.
Er
Ein römischer Polizist wird einer kaltblütigen Verbrecherorganisation, die Verbindungen in den Polizeiapparat besitzt, teilweise Herr, als er die gleichen brutalen Methoden anwendet. Sich kritisch gebender Kriminalfilm, der unverhohlen für durchgreifendere Polizeimethoden plädiert und dies zu krassen Gewaltdarstellungen nutzt, die weder durch die dilettantische Inszenierung noch durch die tragisch verbrämte Geschichte des Polizisten gemildert werden. Die gnadenlose Hand des Gesetzes. Italien, 1974.
Kamera schwenkt auf Postkarten mit Landschaftsbildern. Musik: Arie (z.B. Wagner).
Off-Kommentar im Saal
Man hört oft, der Mensch sei durch das Besitztum der Hände das Vernünftigste unter den Tieren; es ist aber selbstredend, dass er Hände erhielt, weil er das vernünftigste Wesen ist. Die Hände sind nämlich ein Werkzeug, die Natur verleiht aber stets, wie ein vernünftiger Mensch, ein jedes Ding dem, der es benutzen kann, denn es ist zweckmäßiger, dem Flötenspieler Flöten zu geben als dem, der Flöten besitzt, die Kunst des Flötenspielens beibringen zu wollen. Dem Größeren und Wichtigeren hat sie nämlich das Geringere, nicht aber dem Geringeren das Edlere und Größere beigefügt. Wenn es nun so besser ist, die Natur aber von dem Möglichen das Beste wählt, so ist der Mensch nicht durch seine Hände das vernünftigste, sondern weil er das vernünftigste unter den lebenden Wesen ist, darum besitzt er Hände. Denn je vernünftiger ein Wesen ist, um so mehr Werkzeuge dürfte es wohl auch vortrefflich verwenden; die Hand scheint aber nicht ein Werkzeug, sondern viele darzustellen; denn sie ist gleichsam ein Werkzeug statt vieler. Dem Wesen nun, das die meisten Kunstfertigkeiten zu erlernen vermag, verlieh die Natur die unter allen Werkzeugen am meisten brauchbare Hand.
Die aber, die sagen, der Mensch sei nicht zweckmäßig, reden keineswegs recht, denn dem Menschen ist es vergönnt, viele Schutzmittel zu besitzen und sie beständig zu wechseln und jede beliebige Waffe wo auch immer zu haben. Die Hand wird dann zur Klaue, zum Huf, zum Horn, zum Spieß und Schwert und zu jeglicher anderen Wehr und Waffe; sie wird nämlich dies alles sein, weil sie alles ergreifen und halten kann.
Kamera schwenkt auf Ihn, folgt Ihm durch die Tiefgarage. Er tritt an einen Tisch, an dem Sie sitzt.
Sie
Herr Ober! Bitte die Speisekarte!
Off-Kommentar im Saal
Der Ober bringt Ihr die Speisekarte.
Er
Bitte sehr! Was möchten Sie trinken?
Sie
Ich bekomme ein Glas Weißwein.
Er
Kommt sofort.
Off-Kommentar im Saal
5 Minuten später bringt der Ober die Getränke.
Er
Was möchten Sie essen?
Sie
Ich nehme eine Gulaschsuppe, ein Steak mit Pommes Frites und grünen Salat.
Off-Kommentar im Saal
Nach dem Essen.
Sie
Herr Ober, zahlen bitte!
Er
Was zahlen Sie?
Sie
Ich bezahle den Wein, eine Zwiebelsuppe und einen Salatteller.
Er
4 Mark 50 der Wein, die Zwiebelsuppe 4,80 und der Salatteller 7 Mark, macht zusammen 16,30 DM.
Off-Kommentar im Saal
Sie gibt dem Ober einen Zwanzigmarkschein.
Sie
Bitte, geben Sie mir zwei Mark. Der Rest ist für Sie.
Sie steht auf, geht 10 Schritte von der Kamera weg, dreht sich ruckartig um und schießt auf ihn. Er wirft sich hinter ein Auto schießt zurück. Es entsteht eine wilde Schießerei, in der die beide Darsteller sich physisch sehr verausgaben.
Off-Kommentar im Saal
Die Projektionsfläche zeigt ein äußerst unruhiges Bild. Es schwingt leicht, verschiebt sich unerwartet zur Seite und verursacht dem Zuschauer Kopfschmerzen. Man wird nervös beim Betrachten. Wie kommt das? Wir hatten während des Filmens unsere Kamera mit unsicherer Hand gehalten. Alle zufälligen Bewegungen und das Zittern der Hand übertrugen sich auf die Kamera und erzeugten beim Projizieren den Effekt des unruhigen Bildes auf dem Film.
Es gibt natürlich Situationen, bei denen wir kein Stativ verwenden können ñ beispielsweise bei einem Hochgebirgsausflug oder wenn wir Tiere in freier Wildbahn aufnehmen oder beim Filmen spielender Kinder. Hierbei stört uns ein Stativ nur, deshalb müssen wir die Kamera so fest in der Hand halten, dass sie sicher aufliegt und keine zufällige Bewegung des Körpers übertragen kann. Am sichersten und bequemsten ist es bei solchen Gelegenheiten, einen Revolvergriff am Boden der Kamera zu befestigen. Wir halten mit der einen Hand den Griff, während wir mit der anderem Hand die Kamera von oben umfassen. Dadurch erhalten wir eine maximale Stabilität der Kamera bei Aufnahmen aus freier Hand.
Es ist daher ratsam, im Augenblick der Aufnahme die Luft anzuhalten, damit die Atembewegungen die Kamera nicht erschüttern. Besondere Vorsicht ist geboten, wenn wir uns vor der Aufnahme körperlich angestrengt haben, das heißt, wenn wir in den Bergen klettern, mit dem Rad fahren, schnell laufen oder längere Zeit eine Last tragen. Nach derartigen Anstrengungen sollten wir mit dem Filmen warten bis wir uns erholt haben und alle Bewegungen unseres Körpers beherrschen können. Bringen wir diese Geduld nicht auf, sind unruhige Bilder auf der Projektionsfläche das Resultat.
Die beiden Darsteller stehen nah vor der Kamera.
Sie
Was der Mond rot aufgeht. Es war einmal ein arm Kind und hatt' kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war's ein Stück faul Holz. Und da ist es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum. Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne Mücken, die waren angesteckt, wie der Neuntöter sie auf die Schlehen steckt. Und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und es war ganz allein. Und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und ist ganz allein.
Er
Margreth.
Sie (erschreckt)
Was ist?
Er
Margreth, wir wollen gehn. 's ist Zeit.
Sie
Wohin?
Er
Weiß ich's?
Sie
Also dort hinaus ist die Stadt. 's ist finster.
Er
Du sollst noch bleiben. Komm, setz dich!
Sie
Aber ich muss fort.
Er
Du wirst dir die Füße nicht wund laufen.
Sie
Wie bist du nur auch!
Er
Weißt du auch, wie lang es jetzt is, Marie?
Sie
Am Pfingsten zwei Jahr.
Er
Weißt du auch, wie lang es noch sein wird?
Sie
Ich muss fort, das Nachtessen richten.
Er
Friert's dich, Margreth? Und doch bist du warm. Was du heiße Lippen hast! Heiß, heißen Hurenatem ! Und doch möcht' ich den Himmel geben, sie noch einmal zu küssen. - Friert's dich? Wenn man kalt is, so friert man nicht mehr. Du wirst vom Morgentau nicht frieren.
Sie
Was sagst du?
Er
Nix.
Schweigen.
Sie
Was der Mond rot aufgeht!
Er
Wie ein blutig Eisen.
Sie (in die Kamera)
Jan, kannst du nicht mal Madonna auflegen?
Jan im Saal sucht hektisch in seinen CDs. Dann Musik Madonna. Die Schauspieler gehen die Treppe hoch (wenn sie nicht schon während des Gerennes noch oben gegangen sind). Das Bild bricht in der Übertragung zusammen. Nach einem Moment schwarz läuft der Abspann. Die Drei von draußen kommen dabei in den Saal zum Verbeugen.